Immer wieder beherbergen wir bei uns im Tierheim Schützlinge, die Qualzucht-Rassen angehören. Aus rein optischen Ansprüchen wurden diesen Tieren Merkmale angezüchtet, die ihre Gesundheit massiv einschränken. Welche schlimmen Auswirkungen die schöne Optik haben kann und um welche Hunderassen es sich handelt, erklärt unsere Tierheimleitung und Tierärztliche Leiterin Dr. Urte Inkmann.
In den vergangenen zehn Jahren haben wir zunehmend Tiere mit Qualzuchtmerkmalen bei uns im Tierheim aufgenommen. Meistens kommen sie als kranke Fundtiere zu uns oder stammen aus dem illegalen Welpenhandel und wurden sichergestellt. Viele Tierhalterinnen und Tierhalter haben sich auch völlig unbedacht Tiere mit Qualzuchtmerkmalen angeschafft und waren überrascht, wie zeitaufwendig und kostenintensiv die notwendigen tiermedizinischen Behandlungen sind. Wenn sie sich dann mit dem Hund und seinen Krankheiten überfordert fühlen, scheint es der einfachste Weg zu sein, die Hunde einfach auszusetzen oder vor dem Tierheim anzubinden.
Doch was sind überhaupt Qualzuchten und wie kommt es dazu, dass sie produziert werden? Was bewegt Menschen dazu, sich Tiere mit Qualzuchtmerkmalen anzuschaffen? Diese Fragen möchten wir im Folgenden anhand von Beispielen zu Hunderassen und ihren Qualzuchtmerkmalen klären.
Die Wahl der Qual
Leider gibt es in unserer Gesellschaft eine große Unwissenheit über die Folgen der gewünschten optischen Merkmale. Zudem tauchen Hunde mit Qualzuchtmerkmalen überproportional häufig als „Modehunde“ – wie beispielsweise Mops, Französische Bulldogge oder Chihuahua – in der Werbung, den Sozialen Medien und bei Stars und Sternchen als Accessoires zur Förderung des Images auf. Niemand spricht darüber, dass es Hunden mit Qualzuchtmerkmalen häufig nur durch regelmäßige tiermedizinische Behandlungen und Operationen möglich ist, ein halbwegs lebenswertes Hundeleben zu führen.
Beim Hund gibt es über 80 Krankheitsdispositionen, die als „Nebenwirkungen“ von erwünschten Zuchtzielen – oft als „rassetypisch“ bezeichnet – billigend in Kauf genommen werden. Weiterhin werden viele krankmachende Zuchtziele in den offiziellen Rassestandards der Zuchtverbände sogar vorgeschrieben. Die Ausprägungen gewünschter optischer Merkmale können zu extremen Leiden bei den Tieren führen. Die betroffenen Hunde haben von Geburt an keine Chance auf ein art- und bedarfsgerechtes Hundeleben.
„Er schnarcht so putzig“
Die meisten Menschen kennen die Hunde, die einem niedlichen Kindchenschema entsprechen: ein runder Kopf aufgrund eines verformten Schädels mit lustigen Glubschaugen, die aus dem Schädel hervorquellen. Zudem sorgen die verkürzten Schnauzen mit kaum vorhandenen Nasenlöchern und heraushängender Zunge dafür, dass die betroffenen Hunde ihr ganzes Leben lang verzweifelt nach Luft ringen. Folgende, extreme Gesundheitsprobleme können (z.B. bei den Rassen Boxer, Englische- und Französische Bulldoggen, Chihuahua, Mops, Shi Tzu, Toy Spaniel, Yorkshire Terrier, Cavalier King Charles Spaniel u. a.) auftreten:
- Atembeschwerden bis hin zur Atemnot aufgrund einer zu kurzen Nase und zu kurzem Oberkiefer. (Brachycephalie)
- Röcheln & Schnarchen durch zu enge Nasenlöcher und -gänge, einen viel zu langen weichen Gaumen und damit ein zu langes Gaumensegel und ein zu weiches Knorpelgerüst des Kehlkopfes. Infolge kommt es zu starkem Hecheln bei kleinster Belastung durch Störung der Temperaturregulation und bei Wärme zu erhöhter Gefahr eines Hitzschlages.
- Hervorquellen der Augäpfel (Exophthalmus) infolge zu flacher Augenhöhlen. Die Augen sind sehr verletzungsanfällig und können herausfallen.
- Eingerollte Augenlider (Entropium) und zu weite Lidspalte: Es droht eine erhöhte Verletzungsgefahr für den Augapfel, schmerzhafte Reizung und Austrocknung der Hornhaut sowie Dunkelfärbung (Pigmentation) mit nachfolgender Blindheit.
- Fehlbildungen des Gebisses: Durch die (Ober-) Kieferverkürzung schließt das Gebiss nicht richtig, Zähne und Zunge sind zu groß für die verkleinerten Kieferknochen. Die Zunge hängt darum ständig aus dem Maul und trocknet aus – und aufgrund der Gebissfehlstellungen sind Zahnkorrekturen in Narkose unerlässlich, damit die Tiere schmerzfrei sind.
„Was für ein niedliches Hündchen“
Auch andere Zuchtziele führen zu massiven gesundheitlichen Problemen – angefangen bei extremem Wachstum oder extremer Verkleinerung, über Körperformen, Haut und Haarkleid, einschließlich der Pigmentierung (Farbe), hin zu Verhaltens- und Wesensmerkmalen. Zuchten auf diese Merkmale sind oft gekoppelt mit Veränderungen im Bereich des zentralen Nervensystems, Sinnesorganen, Fortpflanzungsorganen, Skelett, Muskulatur, Bindegewebe, anderen Organen oder Geweben. So kann die geringe Größe eines Hundes unter anderem folgende gesundheitliche Auswirkungen haben:
- Missbildungen der Schädeldecke: Eine zu dünne, nicht vollständig ausgeformte Schädeldecke oder fühlbare Knochenlücken in der Schädeldecke (offene Fontanellen) bewirken einen Gehirnschaden. (z.B. Chihuahua)
- Extrem kleine Hunde, sogenannte Teacup-Hunde, können häufig ihren Blutzuckerspiegel nur regulieren, wenn alle paar Stunden Nahrung zugeführt wird – sie sind auch verletzungsanfälliger als andere Hunde. (z.B. Chihuahua, Zwergspitz)
„Nur ein großer Hund ist ein richtiger Hund“
Einigen Menschen kann ein Hund gar nicht zu groß, zu schwer und zu faltig sein – dabei wird nicht bedacht, wie sehr das „Statussymbol“ unter diesen gezüchteten Merkmalen leidet:
- Extreme Größe verkürzt die Lebensdauer der Tiere massiv, führt zu Bewegungs- und Aktivitätseinschränkungen (z.B. Deutsche Dogge)
- Extreme Hautfalten begünstigen schmerzhafte chronische Hautentzündungen. Am Kopf können diese Hautfalten dazu führen, dass es durch Reiben der Falten zu Verletzungen der Hornhaut kommt. (z.B. Bordeauxdogge, Shar Pei)
- Übertriebener Muskulaturansatz kann zu Rücken- und Gelenkproblemen führen. (z.B. Bulldoggen)
„Normal ist langweilig“
Viele Merkmale werden gezüchtet, damit der Hund aus der Masse heraussticht. Die gesundheitlichen Folgen sind teilweise massiv.
- Haarlosigkeit führt zu einer hohen Anfälligkeit für Verletzungen, Sonnenbrand oder Kälte. (z.B. Chinesischer Schopfhund, Mexikanischer Nackthund)
- üppiges Haarkleid führt zu häufiger Verfilzung mit vielen möglichen Folgen. (z.B. Pekinese, Shi Tsu)
- Farben: Blau, Albino, Merle, Tigerschecken bringen häufig Gendefekte mit sich. (z.B. Australian Shepheard, Deutsche Dogge, Dobermänner)
- Knickrute, Korkenzieherschwanz, Schwanzlosigkeit (Brachyurie/Anurie) verursachen Keil-, Block- und Schmetterlingswirbel, neurologische Ausfälle und Bandscheibenvorfälle, Lähmungen bzw. Lähmungserscheinungen in der Hinterhand oder mehr – sowie Kot- und Urininkontinenz. (z.B. Australian Shepherd, Englische Bulldogge, English Cocker Spaniel, Mops, Bobtail)
- Zu große Ohren verursachen Schmerzen durch das Gewicht, häufige Verletzungen der Ohren, Entzündungen der Gehörgänge und des Innenohres. (z.B. Cocker Spaniel)
- Mängel in der Statik: Die Rückenlänge steht nicht im Verhältnis zu der Länge der Beine. Folge: Bandscheibenvorfälle, Neurologische Ausfälle. (z.B. Dackel)
Wer verursacht eigentlich Qualzuchten?
Die traditionellen „Rassekonzepte“ und „Zuchtziele“ vieler Hunderassen haben fatale Folgen auf die Gesundheit und die Lebensdauer der gezüchteten Tiere. Züchtende haben in erster Linie ein Interesse daran Geld zu verdienen – ob mit oder ohne Tierleid ist ihnen egal. Leider finden die Hunderassen mit Qualzuchtmerkmalen einen reißenden Absatz, sodass es für Züchtende sehr lukrativ ist, immer wieder kranke Hunde zu produzieren. In Einzelfällen werden sie dabei leider auch von Tierärztinnen und Tierärzten unterstützt, denn viele der Qualzuchtrassen können weder auf normalen Weg trächtig werden noch auf normalem Weg Welpen zur Welt bringen. Letztendlich sorgt die große Nachfrage dafür, dass sich Zucht und Handel von Hunden mit Qualzuchtmerkmalen finanziell lohnen.
Was tun, um dem Trend zum Qualzuchthund entgegenzuwirken?
Intensive Aufklärungsarbeit ist immens wichtig: Die Bundestierärztekammer und das Qualzucht – Evidenz-Netzwerk (QUEN) bieten Informationen über Qualzuchtmerkmale, die für jedermann verständlich aufgearbeitet wurden. In der Informations- Datenbank von QUEN findet man eine Übersicht über zuchtbedingte sichtbare oder verdeckte Defekte betroffener Tierrassen (https://qualzucht-datenbank.eu). Zudem ist bei der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz das Merkblatt 141 zu Qualzucht und Erbkrankheiten beim Hund erhältlich (TVT-MB_141_Qualzucht_beim_Hund_Nov._2017.pdf).
Darüber hinaus ist auch der Gesetzgeber gefordert: Die rechtlichen Grundlagen für die Eindämmung von Qualzucht bietet das Tierschutzgesetz:
(1) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten […], soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse […], erwarten lassen, dass als Folge der Zucht [...]
1. Bei der Nachzucht, […] oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten oder
2. Bei den Nachkommen
a) Mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten
b) Jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen selbst oder einem Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbarem Leiden oder Schäden führt oder
c) Die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt.
Adopt, don’t shop!
Von größter Wichtigkeit wäre jedoch, dass potenzielle Tierhalterinnen und Tierhalter sich vor der Anschaffung eines Hundes informieren, welcher Hund für sie in Frage kommt und mit welchen Eigenschaften und Krankheiten zu rechnen ist.
Das zukünftige Familienmitglied sollte niemals rein nach der Optik, sondern vor allem nach den Eigenschaften und dem Gesundheitsstatus ausgewählt werden. Es sollten keine Tiere mit Qualzuchtmerkmalen gekauft werden, denn nur so lässt sich verhindern, dass immer wieder nachgezüchtet wird. In den Tierheimen warten genügend Freunde fürs Leben auf neue Familien. Wenn Sie einen Hund aus dem Tierheim des Hamburger Tierschutzverein von 1841 e.V. adoptieren möchten, achten wir sehr darauf, dass alle Beteiligten zusammenpassen – und wir beraten Sie ausführlich über alle bekannten Verhaltensweisen und über eventuelle gesundheitliche Baustellen des Tieres. Damit steht dann dem gemeinsamen Lebensglück mit einem Tierheimhund nichts mehr im Weg.
Zucht und Ausstellung von Tieren mit Qualzuchtmerkmalen sollten noch einfacher verboten werden können. Zudem sollten die Medien eine freiwillige Selbstverpflichtung eingehen, sowohl Werbung als auch die unkritische Darstellung oder Berichterstattung mit Qualzuchttiere oder über diese zu unterlassen.