Zum heutigen Tag des Haustieres berichten wir, wie es unser ehemaliger Schützling Jack, der jetzt Günther heißt, so getroffen hat und was er alles erlebt: Im Januar ist er nach Brandenburg an der Havel gezogen. Der Schriftsteller Stephan Boden und seine Frau Anja haben den kleinen Kerl bei uns adoptiert, kurz nachdem ihre Hündin Polly gestorben war. Mittlerweile kennt jeder in der Stadt den kleinen „Jünther“, denn Herrchen Stephan schreibt in der „Märkischen Allgemeine“ täglich, was ihn und Günther in Corona-Zeiten beschäftigt.
Wie Günther mit den großen Fußstapfen klar kommt, die Polly hinterlassen hat, wieviel Glück seine Menschen hatten, ihn überhaupt bei uns im Tierheim adoptieren zu können – und was der Kleine ihnen gerade in diesen schwierigen Zeiten bedeutet, erzählt Stephan Boden im folgenden Text, der auch ein Nachruf auf seine geliebte Polly ist:
“Two in a Million.”
Da stehen wir also. Alle zusammen. Günther schnüffelt genau an der Stelle, die wir zum ersten Mal gemeinsam besuchen. Anja und ich weinen, Günther freut sich, seine Rute wedelt wie wild. Ich wünschte, er hätte sie kennengelernt. Und wir wünschen uns auch, unser Sohn, der bald die Welt erblickt, hätte sie kennen gelernt. “Sie” das ist Polly. Polly wurde nur 13 Jahre alt. Wir stehen an ihrem Grab.
Es kam so plötzlich, irgendwann Ende November 2019. Eben noch springt Polly, eine Parson-Russel-Hündin, vor uns wie wild hin und her und fordert mich zum Spielen auf. Ich zeige auf sie, schaue meine Frau an und sage: “Das gibt es nicht, oder? Dieser Hund ist doch nicht 13! Die sieht aus und verhält sich, als wäre sie sechs Jahre alt.” Denkste.
Polly bekam ich im zarten Alter von neun Wochen. Sie war mein fünfter Hund. Ich konnte damals noch nicht ahnen, was für eine besondere Erscheinung dieses kleine Wesen war. 13 Jahre war sie immer an meiner Seite. Wir durchlebten gemeinsam so ziemlich alles, was ein Leben im Programm hat - gute Zeiten, schlechte Zeiten, sehr gute Zeiten und sehr schlechte. Fünfmal sind wir umgezogen, davon zwei Mal in eine andere Stadt. Erst von Hamburg nach Berlin, dann weiter nach Brandenburg an der Havel. Wir verbrachten mehrere Jahre zusammen auf einem kleinen Segelboot. Dann lernte ich meine Frau Anja kennen. Sie hatte keine Ahnung von Hunden, besaß eine Katze. “Hunde sind dumm und stinken”, so war ihr Vorurteil. Nur kurze Zeit später waren die beiden unzertrennlich, sie verliebten sich ineinander. Heute findet Anja, dass Hunde wie Kuchen riechen und die besten Lebewesen der Welt sind. Wie recht sie hat.
Polly war “One in a Million”. Eine Ausnahmepersönlichkeit. Ich habe zwei Bücher mit ihr und über sie geschrieben. Sie galt als “Deutschlands bekanntester Segelhund.” Alle liebten diese unglaublich empathische, liebevolle Persönlichkeit. Ich konnte mit ihr in der Berliner U-Bahn ohne Leine unterwegs sein. Ihr Rudel war ihr viel wichtiger als weglaufende Kaninchen. Sie war immer bei uns. Und sie blieb immer und rannte nie weg.
Plötzlich stand sie morgens auf und lief irgendwie unrund. Das kommt bei Terriern ab und zu mal vor, wenn sie sich tags zuvor völlig verausgabt haben. Aber dieses Mal war es anders. Es war nicht schlimm. Zunächst. Einen Tag später legte sie sich nicht wie immer zu uns aufs Sofa, sondern blieb unten auf einer Zeitung liegen. Wir wussten da noch nicht, dass sie einfach nicht mehr aufs Sofa kam. Zwei Tage später stehen wir bei den Kleintierspezialisten in Berlin-Tegel und bekommen die Diagnose: Bandscheibenvorfall, schwer. Mit Austritt von Knochenmark. Sie konnte da ihre Hinterbeine schon nicht mehr kontrollieren.
Die OP verlief gut. Zwei Tage später konnten wir sie abholen. Uns wurde gesagt, es würde Wochen dauern, bis sie wieder einigermaßen laufen könnte. Wieder zwei Tage später ging sie fast vollständig normal, wollte sogar schon wieder rennen. Wir waren nach den schrecklichen Tagen zuvor so erleichtert und glücklich. Nun würde sie noch viele Jahre an unserer Seite ihren Lebensabend verleben können. Dann hörte sie auf zu fressen.
Drei Wochen später war dann der schrecklichste aller Momente eines Hundehalters gekommen. Wohl durch die starken Schmerzmittel bekam meine geliebte Polly eine schlimme Bauchspeicheldrüsenentzündung, die trotz aller Maßnahmen nicht besser, sondern schlechter wurde. Vier Tage vor Weihnachten hielt ich sie in der Tierarztpraxis auf dem Arm und sie bekam die Narkose vor der Euthanasiespritze. Es war vorbei. 13 Jahre einfach so weg. Unser Leben brach völlig in sich zusammen.
Dann kamen die Folgetage nach Pollys Tod. Wir sprachen ab und zu darüber, dass unser Sohn nicht ohne Hund aufwachsen soll, wir aber vielleicht noch ein Jahr warten.
An einem grauen Montag im Januar 2020 saß ich im Büro und schaute im Internet nach Hunden. Anja saß oben in der Wohnung und machte das gleiche. Wir schickten uns Links, Bilder und Webseiten. Und ab und zu sah man mal einen Welpen zur Abgabe und dachte: "Ja, sowas, das wäre was." Keiner von uns beiden indes dachte daran, sich jetzt um einen Hund zu kümmern.
Dann kam Jack.
Da ich das Tierheim Süderstraße in Hamburg aus meiner Zeit dort sehr gut kenne, habe ich mal auf der Website nachgesehen. Nur so aus Interesse. In einem Tierheim erwartete ich keinen Welpen. Und dann schießt mir plötzlich ein Bild entgegen. Und zwar direkt ins Herz. Ich schicke den Link zu Anja und denke dabei: "Vielleicht sollte ich da mal anrufen." Der Satz war noch nicht zu Ende gedacht, da kommt Anjas Antwort: "Ruf da an."
Die Warteschleife war unendlich. Irgendwann hatte ich jemanden an der Strippe und erfuhr, dass das nicht so einfach geht. Man muss einen Bewerbungsbogen herunterladen und ihn ausgefüllt zurückschicken. Sollte man ausgewählt werden, melden die sich.
Als ich den Bogen ausfüllte, dachte ich: "Das wird niemals was." Denn dort wird zum Beispiel nach der Wohnsituation gefragt. Haus mit Garten? Mietwohnung? Welcher Stock? Fahrstuhl vorhanden?
Wir leben im dritten Stock. Ohne Aufzug. Mir war klar, dass sich dort jemand mit Haus und tollem Garten melden wird. Und wir keine Chance haben. Ich scannte den Bogen also ein, schrieb eine Mail mit weiteren Infos über uns und drückte auf 'senden'. Das war Montag.
Mittwoch klingelt das Telefon. Hamburger Nummer. "Hallo, hier ist das Tierheim Süderstraße. Wir rufen wegen Jack an. Sie können ihn haben. Kommen Sie Freitag bitte vorbei."
Ich hatte Freitag ein paar Termine und fragte, ob es auch Samstag ginge. Aber ich musste am Freitag kommen, da man sonst den Nächsten anrufen würde. Ich hatte kurz überlegt zu fragen, ob ich in fünf Minuten zurückrufen könne. Aber irgendwas in mir hat mich davon abgehalten. Stattdessen entschied ich, zuzusagen und die Termine zu verschieben. Das war eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Also sagte ich zu. Und wir fuhren hin. Morgens um sieben.
Jack, den wir nun Günther nennen (weil er ein echter Günther ist), ist ein Zufall. Seine Mudder (er ist Hamburger, deshalb auf hamburgisch) wurde gefunden und war bereits trächtig als sie ins Tierheim kam. Sie ist ein reinrassiger Yorkshire-Terrier. Wer Vaddern ist, weiß keiner. Also bekam Muddi im Tierheim drei Welpen, zwei standen noch zur Vermittlung. Jacks Bruder William war weiß. Der kam wegen der Ähnlichkeit zur geliebten Polly nicht in Frage.
Als wir am Freitag früh in Hamburg ankamen, erfuhren wir auch gleich, dass wir unfassbares Glück hatten. Wir waren auf Platz drei der Liste. Eins und zwei gingen nicht ans Telefon. Als man mich anrief, rief Sekunden später Nummer zwei zurück. Da hatte ich jedoch schon zugesagt. Hätte ich das mit dem Rückruf gemacht, wäre er weg gewesen. Es müssen unglaublich viele Bewerber gewesen sein. Ich weiß keine Zahl, tippe aber auf dreistellig.
Der kleine Kerl war unglaublich schüchtern. Wir hatten einen Kennel gekauft, so einen aus Metall, den er in der neuen Wohnung nach der langen Fahrt sofort aufsuchte und ihn am ersten Abend und in der Nacht nicht mehr verließ. Erst am nächsten Tag begann er, vorsichtig die Wohnung zu erkunden.
In den ersten Tagen habe ich den niedlichen kleinen Mann oft angesehen und dabei ehrlicherweise befürchtet, dass er es schwer haben, wird, in solche besonderen und besonders großen Fußstapfen von Polly treten zu können. Und Günther hat genau das richtige gemacht: Diese Fußstapfen sind ihm völlig Latte. Er läuft einfach kreuz und quer rüber und interessiert sich nicht die Bohne dafür. Und er macht alles richtig: Nach nur zehn Tagen war er völlig stubenrein.
Mittlerweile ist er seit drei Monaten bei uns. Und mittlerweile ist uns auch klar, was für einen Hund wir da bekommen haben. Polly und “Jünther”, wie er hier genannt wird, sind “Two in a Million”. Günni, auch genannt “Das Glücksbärchen”, hat sich super eingelebt. Er liebt das Leben in der 70.000 Einwohner Stadt mitten in der wundervollen Naturlandschaft Brandenburgs. Unsere Landausflüge liebt er, läuft schon ohne Leine mit und wenn an der Leine, zieht er kaum noch.
Er begreift alles super schnell und wir stehen ständig mit offenem Mund vor ihm, wenn er wieder irgendeine besondere Verhaltensweise an den Tag legt. Frage ich ihn: “Wo ist denn die Anja?”, rennt er rum, bis er sie gefunden hat. Günther hat sich so tief in unsere Herzen geschraubt. Er kann und will Polly niemals vergessen machen. Das hat er weder nötig noch interessiert ihn diese Bürde sonderlich. Günther ist Günther.
Der kleine Mann hat Nerven wie Drahtseile. Nur zwei Wochen, nachdem er bei uns einzog, war ich wegen einer neuen Buchveröffentlichung ins Fernsehstudio einer Live-TV-Sendung im rbb eingeladen. “Jünther” kam mit aufs Sofa. Die vielen Kameras, das ganze Gewusel um uns herum hat ihn überhaupt nicht beeindruckt. Am nächsten Tag nach der Sendung wurde ich bereits morgens um acht Uhr von einem älteren Herrn angesprochen: “Ist det Justav ausm Fernsehn?”
Heute nennt ihn niemand mehr “Justav”. Man kennt ihn hier nun sehr gut. Denn seit diese Corona-Krise ausgebrochen ist, schreibe ich für die Märkische Allgemeine Zeitung als freier Autor täglich das “Corona-Tagebuch”. Und da wir in dieser schweren Zeit jeden Tag aufs Land fahren, sind immer auch Fotos von Günther in den Artikeln zu sehen. Nach wenigen Tagen kam aus der Redaktionsleitung die Bitte, mehr Fotos von “Jünther” zu schicken, weil er bereits einen großen Fanclub hat und sich die Leute sehr gern von ihm ablenken lassen. Mittlerweile hat er es auch auf die Titelseite der überregionalen Ausgabe geschafft. Günther ist auf dem besten Weg, Brandenburgs bekanntester Hund zu werden. Und zwar völlig zu Recht.
Was aber am wertvollsten ist: Man kann sich vielleicht vorstellen, wie beunruhigend diese Krise ist, wenn man Freiberufler ist, dessen Einnahmen gerade wegbrechen und die Frau hochschwanger auf eine Entbindung in einem überlasteten Krankenhaus wartet. Die Sorgen werden immer größer. Aber dann ist da dieser kleine, liebevolle Kerl, der uns zig Mal am Tag dazu bringt, laut zu lachen, wild zu toben und fest zu kuscheln.
Man sagt, neue Hunde werden immer von den alten Hunden gebracht. Das alles war kein Zufall und ich weiß, Polly würde Günther in der Wohnung zur Schnecke machen, ihn aber dennoch dufte finden. Weil er etwas schüchtern ist, gleichzeitig das Auge des Tigers hat. Es wäre in Pollys Sinn. Sie würde sowieso sagen, dass es eine Schande wäre, wenn wir keinen Hund haben. Sie hat ihn uns gebracht, hundert pro.
Danke, Polly.
Günthers Auftritt im Fernsehstudio können Sie sich hier anschauen:
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